von hakushi » Do 5. November 2009, 01:03
Alle guten Dinge sind Drei (und vielleicht kennt ja jemand den Film):
Ritual
Eine Mini Sad / Dark-Fiction
Inspiriert von: ‚ Shiki Jitsu’ (Film von Hideaki Anno)
(*1) Kokeshi’s sind kleine stilisierte Puppen, die aus einem einzigen Stück Holz
geschnitzt werden. Meist sind sie wunderschön bemalt. Sie dienen als
Glücksbringer.
(*2) ‚Idol’ nennt man in Japan Mädchen oder junge Frauen, die durch ihr Aussehen einen
großen Bekanntheitsgrad in den Medien erreicht haben und von jüngeren als Vorbild
angesehen werden. Manche von ihnen (z.B. Aya Ueto oder Chiaki Kuriyama) werden
berühmt, andere sind nach kurzer Zeit wieder ‚Out’. Es gibt in Japan Hunderte von
‚Idols’.
Leer. Ausgebrannt. Inspirationslos. Ausdrücke, die einen Zustand beschreiben, den jeder Autor oder Filmemacher fürchtet. Doch genau dies war mir passiert. Mein Name...ist eigentlich unwichtig. Man könnte jeden beliebigen nehmen. Wichtig ist die Geschichte, die ich nun zu berichten habe.
Ich bin kein großer Filmemacher. Genau genommen sind es Animationsfilme, die ich erschaffe. Obwohl jeder Film eine Welt für sich ist, nehmen Animationsfilme einen hohen Stellenwert in Japan ein. Doch ich war es satt, Anime’s zu machen. Ein richtiger Film; ein Realfilm...dies; erhoffte ich mir; würde den Durchbruch bringen. Doch es fehlte mir an Ideen. Mein Kopf war ein weißes Blatt, das nur auf einen Impuls wartete; jemanden, der ein Wort darauf schrieb. Um mich abzulenken, fuhr ich in die Randbezirke von Tokyo. Hier, so glaubte ich, musste etwas sein...etwas, das mir den Grundstein für ein neues Projekt bieten konnte. Auf einem meiner Spaziergänge kam ich am späten Nachmittag schließlich zu einem stillgelegten Bahngelände. Die Gebäude waren alt, aber immer noch intakt. Nur die Züge waren hoffnungslos verrostet. Und genau zwischen zwei Zügen, auf den Gleisen liegend, sah ich sie. Eine junge Frau; vielleicht Anfang Zwanzig. Sie trug ein rotes Kleid und hatte dunkelbraune Haare, die mit blonden Strähnen durchsetzt waren. Mit leeren Augen starrte sie gen Himmel. Ich stand einige Meter weit entfernt und war nicht sicher, ob sie mich bemerkt hatte.
„Sonnentage sind nicht schlecht...aber ich mag Regentage lieber...“
Ihre Stimme war ungewöhnlich leise und melodisch.
„...wenn es regnet, schauen alle zu Boden...und niemand starrt mich an...“
Ich war unsicher und wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Doch sie stand bereits auf und sah mich interessiert an.
„Sag mal...weißt du, was morgen für ein Tag ist?“
Ich überlegte kurz, doch mir fiel kein Feiertag oder etwas ähnliches ein; kein Datum, welches mir wichtig wäre.
„Morgen ist mein Geburtstag“ sagte sie und setzte ein Lächeln auf, das so strahlend war, das man Angst bekommen konnte. „...nun...das ist schön...“ antwortete ich und versuchte mich ebenfalls an einem Lächeln, welches wohl eher kläglich ausfiel. „Was machst du hier?“. Ich hob die Schultern. „Ich gehe spazieren...“. Ihre Miene wurde mit einem Mal ärgerlich. „Das meinte ich doch nicht. Warum bist du hier...?“. Einen Augenblick lang haderte ich mit mir. Sollte ich ihr die Wahrheit sagen? Oder mir schnell etwas ausdenken...? „Um ehrlich zu sein...ich suche nach etwas, das mich inspiriert...“. Im nächsten Moment bereute ich meine Ehrlichkeit, denn sie grinste mich an. „Bist du ein Künstler oder so was?“. Ich seufzte. Jetzt war es eigentlich sowieso egal. „Nein...ich bin Filmemacher“. Sie schien nicht sonderlich überrascht zu sein. „Und was für Filme machst du?“. „Anime’s...“ sagte ich mit resignierter Stimme. Sie nickte. „Gefällt dir deine Arbeit nicht?“. Ich fühlte mich etwas unwohl, da die junge Frau mich quasi ausfragte. „Ich...möchte etwas neues machen...vielleicht einen Realfilm...“. Sie nickte erneut. Nun war es an mir, ihr ein paar Fragen zu stellen.
„Und du...warum bist du hier?“
Sie machte eine ausladende Bewegung mit den Armen und antwortete stolz: „Ich wohne hier. Hier kommen nur selten Menschen hin...und es ist ruhig hier“. Ich folgte ihren Bewegungen und ließ meinen Blick über das Gelände schweifen. Es war wirklich ruhig. Und auf eine merkwürdige Art hatte dieser Platz etwas, das mich anzog. „Siehst du da drüben? Da ist mein Haus. Nicht schlecht, oder?“ sagte sie und zeigte auf einen Wohnkomplex. „Weißt du was? Wenn du willst, führe ich dich ein wenig herum...Filmemacher-san.“. Ich bejahte. Im Grunde hatte ich nichts vor und außerdem wollte ich die Frau nicht brüskieren. Während wir mit schnellen Schritten durch das Gebäude gingen, fragte ich sie nach ihrem Namen, doch sie zuckte mit den Schultern. „Wer braucht schon Namen? Du kannst dir ja einen für mich ausdenken. Ich nenne dich ab jetzt Filmemacher-san.“. Es dauerte einige Zeit, bis wir alle Stockwerke durch hatten und das Dach erreichten. „Ich werde langsam alt, glaube ich...“ keuchte ich auf den letzten Stufen. Erst jetzt wurde mir klar, das es bereits dunkel geworden war. Kühler Wind wehte mir entgegen, als ich auf die fernen Lichter Tokyo’s schaute. „Die Dunkelheit lässt Formen und Farben verschwinden. Bald ist alles bis auf ein paar Lichter verschwunden...“. Sie trat neben mich und lächelte mich an. „Willst du hier übernachten? Ich wohne im Moment im 4. Stockwerk...da steht eine alte Couch. Sie ist nicht die bequemste, aber man kann darauf liegen“. Der Lauf durch das Gebäude hatte mich erschöpft und ich wusste, das in Tokyo nur ein karges Hotelzimmer auf mich warten würde. „Ist es wirklich in Ordnung?“ fragte ich vorsichtshalber, doch sie hatte bereits meine Hand ergriffen. „Komm schon, Filmemacher-san...“
Ich versuchte also, auf der kleinen Couch zu schlafen. Aber obwohl ich müde war, konnte ich meine Augen kaum geschlossen halten. Dieser Ort...diese Frau...ich musste einfach mehr erfahren. Und wie aus dem Nichts kam mir eine Idee. Natürlich...ich würde einen Film über sie machen...die Frau ohne Namen...die auf einem alten Bahnhofsgelände wohnt. Ich setzte mich auf und notierte einige Stichworte und Gedanken in mein Notizbuch, welches ich immer bei mir hatte. „Du bist ja noch wach...was schreibst du denn da?“. Ich fuhr zusammen, da ich sie nicht hatte kommen hören. „Ach...nur ein paar Gedanken, die ich nicht vergessen will...“. Sie schaute mich ein paar Sekunden durchdringend an...dann hob sie die Schultern. „Du solltest lieber schlafen...hier wird nämlich um 6 Uhr aufgestanden...“. Ich nickte und kam mir auf einmal vor wie ein Kind, das von seiner Mutter ins Bett geschickt wird. „Und du?“ fragte ich aus Trotz zurück. Sie schlenderte über den kalten Beton auf eine Nische zu, die mit verschiedenen Kissen und alten Decken ausgelegt war. „Ich schlafe nicht...ich hasse es, zu schlafen...“ sagte sie leise und setzte sich auf die Kissen. „Aber...jeder muß irgendwann schlafen...“ konterte ich. Sie schüttelte den Kopf. „Ich döse zwischendurch etwas...dämmere etwas...das reicht...“
Ich gab für eine halbe Stunde vor, zu schlafen, dann stand ich auf und ging zu ihrer Nische herüber. Sie saß in einer halb aufrechten Stellung und schlummerte vor sich hin. Ihre Augen waren halb geöffnet. Unwillkürlich musste ich an eine Aufziehpuppe denken. Es war ein fast beängstigender Anblick, aber ihr Atem ging regelmäßig und sie sah gesund aus, also gab es keinen Grund, sich zu sorgen. Auf leisen Sohlen durchquerte ich das Stockwerk und sah mir alles an. Als erstes fiel mir auf, das alle paar Meter ein altes Telefon stand. Ich nahm probehalber einen Hörer ab und war überrascht, ein Freizeichen zu hören. Einige Räume weiter betätigte ich einen Lichtschalter und wurde mit dem kalten Licht einer Neonlampe belohnt. Es schien so, als hätte die Verwaltung vergessen, die Versorgung für dieses Gebäude abzuschalten. Ich musste lächeln. So gesehen war die junge Frau die Besitzern eines kompletten Wohnkomplexes inklusive Licht und Strom. Nicht schlecht. Auf dem Rückweg zur Couch schaute ich noch einmal in die Nische. Sie saß immer noch da; nur ihr Kopf war etwas nach vorn geneigt.
Am nächsten Morgen wurde ich von merkwürdigen Geräuschen geweckt.
„...beim nächsten Ton ist es...5 Uhr...und...59 Minuten...“
Ich öffnete die Augen und blickte mich verwirrt um. Bei sämtlichen Telefonen waren die Hörer abgenommen und aus ihnen klang die Zeitansage. Durch die hohen Betonwände hallte die Stimme der Tonbandansage durch die gesamte Etage. Die junge Frau stand mit gespannter Miene vor einem der Telefone.
„...es ist nun genau...6 Uhr...“
„Danke, Mama...“ sagte sie und legte den Hörer auf. Dann ging sie schnell zum nächsten Telefon und wiederholte die Aktion. Dann zum nächsten...bis sie alle Telefone durch hatte. Erst jetzt schien sie mich zu bemerken. „Guten Morgen, Filmemacher-san...war die Couch bequem?“. Ich setzte mich auf und massierte meinen Nacken. „Es geht so...immer möchte ich darauf nicht schlafen...“. Sie schaute mich mit einem undurchdringlichen Blick an. „Ich muß nachsehen, ob ich noch in Ordnung bin...wenn du willst, kannst du mitkommen...“. Bevor ich fragen konnte, was sie damit meinte, ging sie bereits auf die Treppe zum Dach zu. Neugierig, aber auch etwas besorgt folgte ich ihr. Oben angekommen ging sie geradewegs zum Rand des Daches. Die Sonne war dabei, aufzugehen und hüllte das Gelände in eine fast surreale Farbe. Ohne in ihrer Bewegung zu stoppen, schlüpfte sie unter dem Metallgeländer durch und stand auf der Kante des Gebäudes. „Was...hast du vor?“ fragte ich, während mir ein Schauer über den Rücken lief. Ihre Miene war immer noch ausdruckslos, als sie antwortete.
„Ich sehe nach, ob ich noch in Ordnung bin“
Sie schaute in den Himmel und atmete tief ein. Mit einem Seufzen ergriff sie das Geländer und streckte sich, so das ihr Körper in der Luft zu hängen schien. Einige atemlose Sekunden blieb sie so...dann schlüpfte sie wieder unter dem Geländer hindurch. „Ich bin in Ordnung...komm, laß uns frühstücken“ sagte sie schlicht und lächelte. Ich blieb noch etwas stehen, um den Schock zu überwinden. Nur ein falscher Schritt und sie wäre vor meinen Augen fünf Stockwerke in die Tiefe gestürzt! Das war für meinen Geschmack etwas viel um 6 Uhr morgens.
Nachdem wir Instant-Ramen gefrühstückt hatten, nahm ich meinen Mantel. „Gehst du?“ fragte sie mit betont desinteressierter Stimme. Ich bejahte. „Ich muß noch einige Dinge erledigen. Ist es in Ordnung, wenn ich heute Mittag wiederkomme?“. Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn du möchtest...“. Als ich das Gelände verlasen hatte und mich wieder in den Tokyo’er Stadtverkehr einreihte, fühlte ich mich merkwürdig lebendig. Die Resignation der letzten Tage war verflogen. Ich hatte nun eine Vision und wollte sie festhalten...also holte ich meinen Camcorder aus meinem Hotelzimmer. Vorsorglich packte ich alle Speicherkarten und Akku’s ein, die ich mitgenommen hatte. Bevor ich zurück fuhr, kaufte ich eine kleine Kokeshi (*1) als Geburtstagsgeschenk. Genau wie am gestrigen Tag traf ich sie an den Gleisen. „Du bist ja wieder da...“ meinte sie mit neutraler Stimme. Wieder versuchte ich mich an einem Lächeln, diesmal fiel es mir leichter. „Hier...herzlichen Glückwunsch...“ sagte ich und hielt ihr die kleine Holzpuppe hin. Sie schaute mich verwundert an. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich habe erst morgen Geburtstag...hast du das nicht verstanden?“. Ich senkte meine Arme und schaute sie nur an. „Aber...gestern hast du gesagt...“. Sie unterbrach mich mit einem Seufzen. „...merke es dir...morgen ist mein Geburtstag...nicht heute...niemals heute...immer morgen...“. Nun war ich erst recht verwirrt. „Also...weißt du, was morgen für ein Tag ist?“ fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften. „Dein...Geburtstag...?“ antwortete ich. Wieder wurde ich mit einem Lächeln belohnt. „Richtig...siehst du, es geht doch. Was hast du denn in dem Rucksack da?“. Eigentlich wollte ich nachfragen, wann sie nun eigentlich Geburtstag hatte, aber ihr abrupter Themawechsel brachte mich davon ab. „Einen Camcorder. Ich würde hier gerne ein paar Aufnahmen machen...wenn du nichts dagegen hast...“. Mit schnellen Schritten kam sie auf mich zu und blieb kurz vor mir stehen. Ihr Blick war durchdringend wie ein zu hoher Ton. „Solange du hier bist, kannst du deine Aufnahmen machen...aber wenn du gehst, löschst du sie wieder! Ich vertraue dir...“.
Noch am selben Tag begann ich damit, die Umgebung zu filmen. Als ich sie fragte, ob ich auch sie filmen dürfte, hob sie die Schultern. „Wenn du möchtest...“. Sehr schnell erkannte ich, das sie Talent für das Bewegen vor der Kamera hatte. Je mehr ich sie filmte, desto deutlicher wurde, das sie es mochte, gefilmt zu werden. Als wir uns am Rande des Bahngeländes befanden und sie vor mir posierte, hielt hinter uns ein Wagen. In einer viertel Sekunde änderte sich alles an ihr. Ihr Gesicht wurde blass und ihr Körper war wie erstarrt. Aus Reflex hielt ich noch einige Sekunden mit der Kamera drauf, bevor ich sie senkte. „Entschuldigen sie...ich glaube, ich habe mich verfahren. Könnten sie mir sagen, wie ich nach Roppongi komme?“ sagte ein Mann mittleren Alters, der aus dem Wagen ausstieg. Ich versuchte, einen mehr oder minder normalen Eindruck zu machen und erklärte schnell, wie er in die Nähe des Roppongi-Distrikts kam. Erst nachdem er wieder abgefahren war, schien sie sich wieder bewegen zu können. „Ist alles in Ordnung?“ fragte ich besorgt. Als Antwort stürzte sie auf mich los und klammerte sich an mich. „Es ist weg, oder? Das Auto...es ist weg, ja?“ fragte sie leise. Ohne groß darüber nachzudenken strich ich durch ihre Haare. „...ja....es ist weg....“.
Erst eine Stunde später hatte sie sich einigermaßen beruhigt. Ich fragte sie am Abend nach dem Grund für ihr Verhalten. Augenblicklich zog sie ihre Beine eng an ihren Körper. „Ich...hasse Autos!!!“ sagte sie nur. Wieder entschied ich mich, über Nacht zu bleiben. Ihr Schlaf; wenn man es so nennen konnte; war unruhig. Doch am nächsten Morgen schien sie wieder in Ordnung zu sein. Sie führte wieder ihre Rituale aus; so wie am Morgen davor. So vergingen etliche Tage. Und kein Tag verging, ohne das sie mir diese eine Frage stellte, die ihr anscheinend sehr wichtig war:
„Sag mal...weißt du, was morgen für ein Tag ist?“
Ich hatte mich bereits so daran gewöhnt, das ich wie eine Maschine antwortete:
„Morgen ist dein Geburtstag“
Ich filmte sie weiter. Filmte, wie sie durch die Stockwerke ihres Hauses rannte. Filmte, wie sie ihre Rituale durchführte. Filmte, wie sie lachte. Und je mehr ich mir ihr Gesicht ansah, wenn sie so vor der Kamera herumtollte, desto stärker wurde das Gefühl, sie irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Doch mir wollte weder ein Ort noch ein Ereignis einfallen, welches ich mit ihr in Verbindung bringen konnte. An einem Nachmittag fiel mir auf, das es in dem Wohnkomplex einen Zugang zum Kellergeschoss gab. Auf die Frage, was dort unten sei, wurde sie unruhig. „Du darfst nicht da runter gehen, hörst du? Es...ist dort alles voller Wasser. Es ist gefährlich! Versprich mir, das du nicht da runter gehst, ja?“. Um sie zu beruhigen, versprach ich es.
Am Abend wollte ich mich wieder auf die Couch legen. „Ich habe eine Überraschung für dich, Filmemacher-san! Komm...“. Ich folgte ihr zu der Nische, in der sie sonst schlief. Dort hatte sie alle Kissen und Decken, die sie finden konnte, auf dem Boden ausgebreitet. „Ich habe dir ein Bett gebaut...dann musst du nicht auf der Couch liegen“. Ich war überrascht. „Danke...aber...wo willst du dann schlafen?“. Sie hob die Schultern. „Ach...ich setze mich einfach neben dich“. Ich legte mich also hin und musste zugeben, das es um einiges gemütlicher war als die Couch. „Gute Nacht...“ sagte ich und drehte mich um. „...ja...dir auch...“ antwortete sie leise. Ich schlief überraschend schnell ein, wachte aber mitten in der Nacht auf. „...aua...“. Ich sah zur Wand rüber. Sie setzte sich gerade auf und schaute mich nun ebenfalls an. „...hab ich dich aufgeweckt? Tut mir leid...ich falle manchmal zur Seite, wenn ich kurz davor bin, einzuschlafen...“. Ich nickte. „Ist schon gut...“. Sie lächelte kurz, dann gähnte sie. „Meinst du, ich kann mich für ein paar Minuten zu dir legen? Keine Sorge, ich schlafe nicht...“. Ich bejahte. Schnell legte sie sich hin und deckte sich zu. „Ein komisches Gefühl, wieder in einem Bett zu liegen. Sag mal...wie denkst du über Sex?“. Ich stockte. „...Was!?“ fragte ich zurück. Sie schaute mich etwas belustigt an. „Ich habe nichts übrig für Sex...aber...eine Umarmung...eine Hand, die man festhalten kann....das ist etwas schönes...“. Ich fühlte ihre Hand, die meine drückte. „...du...bist vielleicht jemand, der mir hilft...in Ordnung zu sein...“. Sie drückte meine Hand fester. „Erzähl mir etwas, ja? Es muß nichts besonderes sein...einfach irgendwas...“. Etwas in ihrer Stimme beunruhigte mich, also überlegte ich.
„Ich...habe dir ja gesagt, das ich Animationsfilme mache. Eine der Serien hieß ‚Fireman’. So eine Superhelden-Serie. Dieser Fireman, er konnte mit Flammen um sich werfen. Und in der letzten Folge...ist er verbrannt. Er konnte die Flammen nicht mehr kontrollieren. Und er rief: „Hilfe! Feuer! Feuer!“. Letztendlich hatte er nämlich Angst vor Feuer...“
Während ich erzählte, wurde mir klar, das es für sie völlig belanglos war, was ich sagte; welche Geschichte ich erzählte. Sie wollte nur eine Stimme hören. Sie war von Einsamkeit umgeben und versuchte, vor der harten Realität zu fliehen...so wie ich versuchte, aus meinen von mir selbst erschaffenen Fiktionen zu fliehen...in das, was man Realität nennt. Wer von uns war nun schlimmer dran? Ich hatte meine Geschichte beendet und schaute zu ihr. Ihre Augen waren geschlossen. Sie war eingeschlafen. Ich musste lächeln. Waren meine Geschichten so langweilig? Ihr Gesicht wirkte nun entspannt und friedlich. Ich verspürte das Bedürfnis, ihr Gesicht zu streicheln, doch ich tat es nicht. Es war gut, wenn sie wenigstens eine Nacht richtig schlief. Vorsichtig löste ich meine Hand von ihrer, damit ich mich umdrehen konnte. Am nächsten Morgen wurde ich wieder um kurz nach 6 Uhr geweckt. Sie kam die Treppe vom Dach herunter und winkte mir zu. „Guten Morgen, Filmemacher-san. Hast du gut geschlafen im neuen Bett?“. Ich nickte. „Ja...es war sehr bequem. Und...ist alles in Ordnung?“. Sie lächelte. „Ich bin eingeschlafen...aber es war nicht schlecht...“.
Weiterhin filmte ich sie bei fast jeder Gelegenheit. Abends erzählten wir uns gegenseitig Geschichten. Sie lag nun Nachts neben mir und hielt meine Hand fest, bis sie einschlief. Doch dann einige Tage später war sie plötzlich wie verändert. Sie lächelte nicht mehr. Und sie ignorierte mich völlig. Ich redete auf sie ein; fragte, was los sei. Aber sie sah durch mich hindurch und ging ziellos durch den Wohnkomplex. Ich folgte ihr auf das Dach, wo sie sich hinsetzte. „Der Himmel...ist schön...die Wolken...sind schön...die Sterne...sind schön...aber...wenn er weggeht...ist nichts mehr schön...“. Ich lauschte ihrem Monolog. War es wirklich ich, den sie meinte? Sie fürchtete, das ich sie verlassen könnte. Unbegründet war diese Furcht sicher nicht. Mein Urlaub war bald zuende...und dann würde mich das Arbeitsleben wieder in Anspruch nehmen. Sollte ich sie vielleicht mitnehmen? Ihr meine Arbeit zeigen? Sie hatte hier ihre eigene kleine Welt aufgebaut...ein Welt, in der sie bis vor kurzem noch allein gelebt hatte. Ohne darüber nachzudenken war ich ein Teil dieser Welt geworden. „Ich...kann dich doch an den Wochenenden besuchen...und im Urlaub auch...“ sagte ich beschwörend. Da drehte sie ihren Kopf zu mir. „Ich habe morgen Geburtstag...verstehst du...?“. Ich verstand nicht, war aber froh, das sie auf mich reagierte. „Ja...morgen...“ antwortete ich und drückte sie an mich. „Ich besuche dich, so oft es geht...“. Sie nickte und schwieg. Selbst am Abend sagte sie kein Wort. Dennoch legte sie sich wie in den letzten Tagen zum schlafen neben mich. Ich schlief nicht. Mein Verstand suchte nach einem Kompromiss...einer Lösung, die weder meine Arbeit noch mein Verhältnis zu Ihr beeinträchtigen würde. Aber so eine Lösung gab es nicht. Es gab nur den Versuch, beides unter einen Hut zu bringen. „...es...war nicht meine Schuld...es war wirklich nicht meine Schuld...!“. Urplötzlich hatte sie sich aufgesetzt und starrte mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Schnell nahm ich ihre Hand in meine, um sie zu beruhigen. „...alles in Ordnung...du hattest nur einen Alptraum...“. Sie schüttelte den Kopf. „...geh nicht weg...“. Ehe ich mich versah, klammerte sie sich an mich. Nun war ich es, der schwieg. Vorsichtig ließ ich mich nach hinten in die Kissen fallen. Sie hielt mich fest und es schien, als wollte sie mich nie wieder los lassen.
Als wir am nächsten Morgen aufwachten, stand die Sonne schon am Himmel. Sie gähnte, schaute sich um...und sprang auf. „Oh nein...“. Sie lief zu den Telefonen, hob einige ab und wählte die Zeitansage.
„...beim nächsten Ton ist es...9 Uhr...und...27 Minuten...“
„...das kann nicht sein...“ stammelte sie und wiederholte immer wieder das Ritual. Doch es half nichts...wir hatten verschlafen. Sie ging zur Treppe...blieb stehen...und kam zurück zu mir. „Es geht nicht...es klappt nicht mehr...“. Ihre Stimme klang ängstlich und verwirrt. Dann ging sie wieder zur Treppe...und blieb wieder stehen. „Aber es war nicht meine Schuld...wirklich nicht...“. Ich versuchte so gut wie möglich sie zu beruhigen, aber sie setzte sich weder hin noch hörte sie mir zu. Statt dessen ging sie im Kreis um die Telefone herum und hielt sich die Ohren zu. „...das darf nicht sein...“. Zwar schien sie gegen Abend etwas ruhiger zu werden, doch ich war immer noch Luft für sie. Auch legte sie sich in dieser Nacht nicht neben mich, sondern setzte sich wie in der ersten Nacht in eine Ecke. „...weißt du, was morgen für ein Tag ist?“ fragte sie kurz bevor ich einschlief. Ich setzte mich auf. „Morgen ist dein Geburtstag“ antwortete ich standesgemäß. Sie nickte. „Ja...morgen...ist mein Geburtstag...“ flüsterte sie und schloß die Augen. Ich wartete eine Weile in der Hoffnung, das sie noch etwas sagen würde. Doch sie blieb stumm.
Am nächsten Morgen wachte ich kurz nach 6 Uhr allein auf. Ich schaute mich um, doch sie war nicht zu sehen. Obwohl ich noch müde war, stand ich auf und zog mich an. Die Telefonhörer waren nicht abgenommen worden und auch das Licht war nicht eingeschaltet. Nur die Tür zur Dachtreppe war geöffnet. Mich überkam ein ungutes Gefühl, also ging ich die Stufen hinauf und betrat das Dach. Es wurde gerade hell und ein kühler Wind fuhr mir durch die Haare. Schritt um Schritt näherte ich mich der Stelle, wo sie jeden Morgen nachsah, ob sie ‚in Ordnung’ war. Am Geländer; mit einen Stein beschwert; lag ein Zettel. Nun wusste ich, was passiert war. Doch um wirklich sicher zu sein, trat ich an’s Geländer und schaute fünf Stockwerke tief hinunter. „...nein...“ flüsterte ich, als ich ihre kleine Gestalt mit ausgestreckten Armen auf dem Boden liegen sah. Sie trug das rote Kleid, welches sie schon bei unserer ersten Begegnung getragen hatte. Schnell wandte ich den Blick ab und schnappte nach Luft. Ich wartete auf die unvermeidlichen Tränen...doch sie kamen nicht. Ich konnte ja nicht mal ihren Namen schreien. Minuten vergingen, bis ich es fertig brachte, den Zettel unter dem Stein hervorzuholen und zu lesen:
Verzeih mir, Filmemacher-san.
Ich habe die kurze Zeit genossen, die du mit mir verbracht hast.
Es war schön, nicht allein zu sein.
Doch ich kann deinen Weg nicht mitgehen.
Meine Sünden sind zu groß, als das ich sie weiter tragen könnte.
Im Kellergeschoss wirst du die Antwort finden.
Lebwohl
A. K.
Ohne noch einmal hinunter zu sehen, verließ ich das Dach. Mein Körper fühlte sich taub an und wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen hastete ich die Stockwerke herunter. Als ich den Keller erreichte, konnte ich erkennen, das er wirklich unter Wasser stand. Allerdings waren es nur wenige Zentimeter und einige dicke Holzplatten waren als künstlicher Gehweg hingelegt worden. Sie führten zu einem weißen Tisch, auf dem eine bunt bemalte Gitarre lag. Darüber hingen an einem Wasserrohr aufgehängt Kleider; auf dem Boden vor dem Tisch glitzernde rote Schuhe. Bilder und Musik schossen mir durch den Kopf. Ein Mädchen, das auf einer Bühne stand...ein Konzert...laute Popmusik...Teenager, die einen Namen riefen...
„...Azumi...Kanasaki....!“
Mit einem Mal fiel mir alles wieder ein. Dieses Mädchen...dieses Mädchen ohne Namen war vor vier Jahren sehr berühmt gewesen. Azumi Kanasaki war zu dieser Zeit ein aufstrebendes Pop-Idol; ein wahrer Publikums-Magnet! Die bunt bemalte Gitarre war ihr Markenzeichen. Ihre Kindheit hatte sie in einem Heim verbracht. Mit 17 Jahren lief sie in einer Nacht- und Nebelaktion weg und irrte tagelang durch Tokyo. Um ihr Essen zu bezahlen, sang sie in den Einkaufstraßen, bis ein Mitarbeiter einer Idol-Agentur sie zufällig sah und vom Fleck weg engagierte. So wurde aus dem armen Weisenmädchen über Nacht ein gefeierter Medienstar. Doch nach einem Jahr voller Freude kam der Tag, der Azumi’s Leben veränderte. Es war ihr achtzehnter Geburtstag. Sie hatte im Kreise ihrer Fans ein Extrakonzert gegeben und war mit dem Auto leicht angetrunken auf dem Rückweg zu ihrem Apartment gewesen, als ihr ein Junge vor’s Auto lief. Azumi hatte keine Möglichkeit mehr, auszuweichen und fuhr den Jungen um, der noch an der Unfallstelle starb. Nach diesem Tag war Azumi Kanasaki wie vom Erdboden verschluckt. Einzig ihre Konzertkleidung und ihre Gitarre hatte sie noch aus dem Kofferraum des Wagens geholt, bevor sie verschwand. Tage später fand die Polizei heraus, das der Junge ein fanatischer Fan von Azumi gewesen war und sich absichtlich vor ihren Wagen geworfen hatte, um von ihrer Hand zu sterben. Daraufhin hatten die Fans und die Medien alles versucht, um Azumi wiederzufinden. Doch als es nach einigen Wochen immer noch kein Lebenszeichen von ihr gab, ebbte das Interesse am einstigen Idol immer mehr ab. Heute erinnert sich kaum noch jemand an sie...
Epilog:
Dies ist jetzt ein Jahr her. Damals hatte ich selbst die Polizei gerufen und mich ihren Fragen gestellt. Eine Woche lang war der Name Azumi Kanazaki wieder in aller Munde gewesen...doch es war klar, das dies nicht so bleiben würde. Es würden andere Idol’s kommen und gehen...und möglicherweise würde eines dieser Idol’s ein ähnliches Schicksal erleiden. Ich jedoch würde Azumi, das Mädchen ohne Namen niemals vergessen...
ENDE
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